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Rousseau

Rousseau, Jean-Jacques (1761): Julie oder Die Neue Héloise. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen. Darin: Erster Teil, 23. Brief. Winkler Verlag, München

 

DER DREIUNDZWANZIGSTE BRIEF

An Julien

Kaum acht Tage habe ich darauf verwandt, ein Land zu durchstreifen, dessen Beobachtung Jahre erforderte; allein, außer dem, daß mich der Schnee verscheucht, wollte ich der Post entgegengehen, die mir, wie ich hoffe, einen Brief von Ihnen mitbringt. In Erwartung seiner Ankunft fange ich diesen an, und danach werde ich, wenn es nötig ist, einen andern zur Antwort auf den Ihrigen schreiben.

Ich will Ihnen hier keinen Bericht über meine Reise und meine Beobachtungen geben. Ich habe eine Beschreibung davon aufgesetzt, die ich Ihnen zu überbringen gedenke. Unsern Briefwechsel müssen wir für Dinge sparen, die uns näher angehen. Ich will mich begnügen, vom Zustand meines Herzens mit Ihnen zu sprechen: Es ist billig, Ihnen Rechenschaft zu geben, wie man Ihr Gut gebraucht.

Traurig durch meinen Kummer und getröstet durch Ihre Freude war ich abgereist; und das erhielt mich in einem gewissen schmachtenden, für ein empfindsames Herz nicht unangenehmen Zustand. Langsam und zu Fuße kletterte ich auf ziemlich rauhen Pfaden, begleitet von einem Mann, den ich als meinen Führer mitgenommen hatte, in dem ich den ganzen Weg über mehr einen Freund als einen Lohnarbeiter fand. Ich wollte meinen Gedanken nachhängen und stets wurde ich durch einen unerwarteten Anblick abgelenkt. Bald hingen unermeßliche Felsen in Trümmern über meinem Haupt; bald umströmten mich hohe, rauschende Wassergüsse mit ihrem Nebel; bald öffnete eine immerwährende Flut zu meiner Seite einen Abgrund, dessen Tiefe das Auge sich nicht zu erforschen getraute. Zuweilen verlor ich mich in eines dichten Waldes Dunkelheit; zuweilen, wenn ich aus einem Schlunde herauskam, erquickte auf einmal meinen Blick eine angenehme Wiese. Eine erstaunliche Vermischung von wilder und bebauter Natur zeigte überall der Menschen Hand, wohin man nicht geglaubt hätte, daß sie jemals gedrungen wäre; auf der Seite einer Höhle fand man Häuser; wo man nichts als Brombeeren gesucht hätte, da sah man dürre Weinreben, auf abgerutschtem Erdboden Weinberge, auf den Felsen die trefflichsten Früchte und in Abgründen Felder.

Nicht nur der Menschen Arbeit hatte diese seltsamen Gegenden so wunderbar gegeneinander abstechend gemacht; auch die Natur schien sich daran zu vergnügen, im Widerspruch mit sich selbst zu handeln; so verschieden fand man sie an demselben Ort unter verschiednen Aussichten; gegen Morgen des Frühlings Blumen, gegen Mittag des Herbstes Früchte, gegen Norden des Winters Eis; alle Jahreszeiten vereinigte sie im selben Augenblick, alle Landesarten an einem Ort, entgegengesetzte Erdstriche auf einem Boden und brachte der Ebenen und Berge Früchte in eine sonst überall unbekannte Übereinstimmung. Fügen Sie zu all diesem noch die optischen Blendwerke, die auf verschiedne Art erleuchteten Spitzen der Berge, das Licht und Dunkel der Sonne und des Schattens und alle morgens und abends daraus entstehenden Veränderungen des Lichtes, so werden Sie eine Vorstellung von den fortlaufenden Szenen haben, die meine Bewunderung unaufhörlich auf sich zogen und mir auf einer wirklichen Bühne dargestellt zu sein schienen; denn der Berge senkrechte Ansicht rührt die Augen auf einmal und weit stärker als Aussicht auf Ebenen, die man nur seitwärts von fern sieht, und wo jeder Gegenstand uns einen andern verbirgt.

Den ersten Tag über schrieb ich den Annehmlichkeiten dieser Abwechslung die Stille zu, die ich in mir neu geboren fühlte. Ich bewunderte der fühllosesten Dinge Macht über unsre heftigsten Leidenschaften und verachtete die Philosophie, weil sie nicht soviel über unsre Seele vermag als eine Reihe unbeseelter Gegenstände. Nachdem aber dieser ruhige Zustand die Nacht durch gedauert und den Tag darauf zugenommen hatte, urteilte ich alsbald, er müßte noch eine andre mir unbekannte Ursache haben. An diesem Tage stieg ich auf einige der niedrigsten Berge, durchlief nachher ihre Unebenheiten, gelangte von da auf die höchsten, die nahe vor mir waren. Nachdem ich in den Wolken einhergegangen war, erreichte ich eine heitere Gegend, wo man im Sommer Donner und Sturm unter sich entstehen sieht; ein zu stolzes Bild von des Weisen Seele, dessen Urbild doch niemals vorhanden war, wenigstens sich nur an denselben Orten findet, woher man das Sinnbild entlehnt hat.

Hier entdeckte ich auf merkliche Art in der Reinheit der Luft, in der ich mich befand, die wahre Ursache der Veränderung meiner Gemütsverfassung und der Rückkehr jenes innern, so lange verlornen Friedens. In der Tat ist es ein allgemeiner Eindruck, den alle Menschen empfinden, wiewohl sie ihn nicht alle wahrnehmen, daß man auf hohen Bergen, wo die Luft rein und dünn ist, mehr Freiheit zu atmen, mehr Leichtigkeit im Körper, mehr Heiterkeit im Geiste an sich spürt, das Vergnügen ist da nicht so heftig, die Leidenschaften sind gemäßigter. Die Gedanken nehmen da, ich weiß nicht, was für einen großen, erhabnen Schwung, den Gegenständen gemäß, die uns rühren; sie haben, ich weiß nicht was für eine ruhige Wollust, die nichts Heftiges und Sinnliches hat. Es scheint, als schwänge man sich über der Menschen Aufenthalt hinauf und ließe darin alle niedrigen und irdischen Gesinnungen zurück, als nähme die Seele, je mehr man sich den ätherischen Gegenden nähert, etwas von ihrer unveränderlichen Reinheit an. Man ist da ernsthaft ohne Schwermut, ruhig ohne Unempfindlichkeit, zufrieden, daß man ist und denkt; alle zu lebhaften Begierden ermatten, verlieren jene Schärfe, die sie schmerzhaft macht, lassen im Innersten des Herzens nur noch eine leichte, sanfte Aufwallung zurück; und so macht eine glückliche Himmelsgegend die Leidenschaften, die sonst den Menschen peinigen, zu Werkzeugen seines Glücks. Ich bezweifle, daß gegen einen solchen fortdauernden Aufenthalt jegliche heftige Gemütsbewegung, jegliche Krankheit aus Dünsten sich halten könne, und wundere mich, daß Bäder in der heilsamen, wohltätigen Luft der Gebirge keines von den großen Hilfsmitteln der Arzneikunst und Sittenlehre sind.

 

    Qui non palazzi, non teatro o loggia,

    Ma'n lor vece un' abete, un'faggio, un pino

    Tra' l'erba verde e'l bel monte vicino

    Levan di terra al Ciel nostr' intelletto.

 

Setzen Sie die vereinigten Eindrücke von dem, was ich Ihnen jetzt beschrieben habe, voraus, so werden Sie einen Begriff von dem anmutigen Zustande haben, in dem ich mich befand. Denken Sie sich einmal die Abwechslung, Größe, Schönheit von tausend erstaunenswürdigen Schauspielen; das Vergnügen, nichts als neue Gegenstände, fremde Vögel, seltsame, unbekannte Pflanzen um sich zu sehen, gewissermaßen eine andre Natur zu bemerken und sich in einer neuen Welt zu erblicken. Das alles stellt den Augen eine unaussprechliche Mischung dar, deren Schönheit noch durch der Luft Dünne vermehrt wird; diese macht die Farben lebhafter, die Züge kenntlicher und bringt alle Blickpunkte näher; die Entfernungen scheinen kleiner als auf Ebenen, wo der Luft Dicke den Erdboden in einen Schleier hüllt, der Horizont zeigt den Augen mehr Gegenstände, als er fassen zu können scheint, kurz, das Schauspiel hat etwas Zauberisches, Übernatürliches, das Geist und Sinne entzückt; man vergißt alles, vergißt sich selbst, und weiß nicht mehr, wo man ist.

Die ganze Zeit meiner Reise würde ich mit nichts als der Landschaft Annehmlichkeiten zugebracht haben, wenn ich nicht noch größre im Umgang mit den Einwohnern gefunden hätte. In meiner Beschreibung werden Sie einen kleinen Abriß von ihren Sitten, ihrer Einfalt, ihrer sich immer gleichen Gemütsart und jener gelaßnen Ruhe, die sie mehr durch Befreiung vom Kummer als durch Geschmack an Vergnügen glücklich macht, antreffen. Was ich Ihnen aber nicht schildern, was man sich wenig vorstellen kann, ist ihre uneigennützige Menschenliebe, ihr gastfreier Eifer für alle Fremden, die entweder Zufall oder Neugier zu ihnen führt. Ich habe davon eine bewundernswürdige Erfahrung gehabt, ich, der ich keinem Menschen bekannt war und bloß mit Hilfe eines Führers reiste. Wenn ich abends in einem kleinen Dorfe ankam, eilte jeder so begierig auf mich zu, mir sein Haus anzubieten, daß ich wegen der Wahl verlegen war, und der den Vorzug erhielt, schien darüber so zufrieden, daß ich diesen Eifer das erstemal für Habsucht hielt. Nachdem ich aber bei meinem Wirte fast wie im Gasthofe verfahren war, erstaunte ich, daß er den Tag darauf mein Geld ausschlug, ja sogar meinen Antrag übelnahm; und so ging es überall. Ich hatte also die bloße Liebe der Gastfreundschaft, die insgemein sonst ziemlich lau ist, ihrer Lebhaftigkeit nach für Gewinn gehalten. Ihre Uneigennützigkeit war so vollkommen, daß ich auf der ganzen Reise keine Gelegenheit fand, einen Taler anzubringen. Wozu sollte man auch wirklich in einem Lande Geld ausgeben, wo die Herrschaften keine Erstattung ihres Aufwands, die Bedienten keinen Lohn für ihre Dienste bekommen und wo man keinen Bettler findet? Gleichwohl ist im Oberwallis das Geld sehr rar; darum aber fühlen sich die Einwohner desto besser; denn Lebensmittel gibt es da im Überflusse, ohne daß man auswärts Handel damit treibt, ohne daß man sie im Lande schwelgerisch durchbringt und ohne daß der Landmann des Gebirgs, dem seine Arbeit Vergnügen ist, träger wird. Werden sie jemals mehr Geld haben, so werden sie unfehlbar ärmer sein. Sie sind so weise, daß sie das einsehen; und es gibt im Lande Goldgruben, deren Ausbeutung untersagt ist.

Anfangs wunderte ich mich sehr über dieser Gebräuche Widerspruch mit den Sitten des Unterwallis, wo man, auf der Straße nach Italien, die Reisenden ziemlich ungerecht ausnimmt, und nur schwer konnte ich so unterschiedliche Gewohnheiten in ebendemselben Volke miteinander zusammenreimen. Ein Walliser erklärte mir den Grund dafür. »Im Tale«, sprach er, »sind die durchreisenden Fremden Kaufleute und andre, die bloß an ihren Handel und Gewinn denken. Es ist also billig, daß sie uns etwas von ihrem Vorteile abtreten, und wir begegnen ihnen so, wie sie andern. Hier aber, wohin keine Angelegenheit die Fremden ruft, sind wir sicher, daß ihre Reise

uneigennützig ist; so empfangen wir sie auch. Es sind Gäste, die uns besuchen, weil sie uns lieben; die nehmen wir freundschaftlich auf.

»Übrigens«, fügte er lächelnd hinzu, »bedarf diese Gastfreundschaft keines Aufwands, und wenige lassen sich einfallen, sie sich zunutze zu machen.« »Ach, ich glaube es«, antwortete ich ihm. »Was sollte man bei einem Volke tun, das lebt, um zu leben, nicht um zu gewinnen oder zu glänzen? Glückliche Menschen und wert, es zu sein! Gern glaube ich, man müsse euch irgendwie ähnlich sein, um mitten unter euch vergnügt zu leben.«

Was mir in ihrem Empfang am angenehmsten schien, war, daß ich darin nicht die geringste Spur von Zwang weder für sie noch mich fand. Sie lebten in ihrem Hause, als wäre ich nicht zugegen, und es stand ganz bei mir, so zu verfahren, als wäre ich darin allein. Sie wissen nichts von der beschwerlichen Eitelkeit, Fremden die Ehrenbezeugungen ihres Hauses zu erweisen, um sie gleichsam an eines Hausherrn Gegenwart zu erinnern, dem man wenigstens hierin unterworfen ist. Sagte ich nichts, so setzten sie voraus, ich wollte nach ihrer Art leben; und um der meinigen mich zu bedienen, brauchte ich nur ein Wort zu sagen, ohne jemals an ihnen das geringste Zeichen von Widerspruch oder Verwunderung zu bemerken. Das einzige Kompliment, das sie mir machten, als sie gehört hatten, ich sei ein Schweizer, war, daß sie zu mir sagten, so seien wir denn Brüder, und ich dürfe mich bei ihnen nicht anders als zu Hause betrachten. Nachher bekümmerten sie sich weiter nicht um alles, was ich tat, weil sie sich's gar nicht einfallen ließen, daß ich den geringsten Zweifel an ihrer Erbietungen Aufrichtigkeit oder das geringste Bedenken, sie auszunutzen, haben könnte. Mit gleicher Ungezwungenheit leben sie unter sich selbst; die Kinder im vernünftigen Alter gelten so viel als ihre Eltern; die Diener setzen sich mit ihren Herren zu Tische; gleiche Freiheit herrscht in den Häusern und in der Republik; und die Familie ist das Bild des Staats.

 

 

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