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Alois Riegl

Alois Riegl (1858 – 1895): Gesammelte Aufsätze. Dr. Benno Filser Verlag, Augsburg, Wien 1928

DIE STIMMUNG ALS INHALT DER MODERNEN KUNST (1899)

Auf einsamem Alpengipfel habe ich mich niedergelassen. Steil senkt sich das Erdreich unmittelbar zu meinen Füßen, so daß kein Ding vor mir in greifbarer Nähe bleibt und die Organe meines Tastsinnes reizen könnte. Dem Auge allein bleibt die Berichterstattung überlassen und von Vielem und Mannigfaltigem hat es zu berichten. Da wölben sich zunächst grasige Bodenwellen bunt gesprenkelt mit Blumen, die von der Jahrzeit gezeugt, mit der nächsten Jahrzeit schwinden werden. Schranke ist den Wiesen weiter unten der dunkle Fichtenwald mit seinen zahllosen emporstrebenden Spitzen; aber ein leichter Schimmer liegt einem Hauche gleich darüber, denn es ist Frühsommer und die neuen Triebe brechen mächtig hervor und vermehren täglich den Kubikinhalt des Forstes. Am Rande des Gehölzes weiden Kühe; keinen Augenblick halten sie still, wie ich weiß, aber jetzt sind es nur winzige weiße Punkte, die ihre Existenz verkünden. Hebe ich aber den Blick nach der Felsmauer gegenüber, so trifft er vor allem den Wasserfall, der über haushohe Wände herabstäubt und vor dessen zornigem Donner kein Laut bestehen kann; so sah ich und hörte ich ihn kürzlich in der Nähe, und scheue Ehrfurcht empfand ich damals vor der ungeheuren Kraft, jetzt aber wirkt er nur ein versöhnend helles Silberband durch das dunkle Geschröff. Taucht endlich das Auge ganz hinab in den grünen Talgrund, so trifft es ein Häuschen mit schimmernd weißen Mauern und ein Rauchwölkchen schwebt daneben als Zeuge der Geschäftigkeit derjenigen, die darinnen wohnen.

Indem ich nun das Ganze überschaue - überall Zeugen rastlosen Lebens, unendlicher Kraft und unaufhörlicher Bewegung, tausendfältigen Werdens und Vergehens, und doch eine vereinigende Ruhe darüber ausgegossen, aus der auch nicht eine Regung dissonierend hervorbricht -, so erwacht in mir ein unaussprechliches Gefühl der Beseeligung, Beruhigung, Harmonie. Es ist, als ob ein Drückendes von mir genommen wäre, einem langen Sehnen seine endliche Erfüllung würde. Was ist jenes Drückende, das in unser Geistesleben finsteren Schatten wirft, und warum weicht es vor der sonnengleichen Wirkung, die der Einblick in das unendliche All - und sei es auch nur ein kleiner Ausschnitt desselben, so weit ihn eben unvollkommener, menschlicher Sinn in einem Momente zu erfassen vermag - in unserem Gemüte wachruft?

Das Drückende entspringt aus unserem Wissen, der reifen Frucht vom Baume der Erkenntnis. Wir wissen jetzt, daß ein Kausalitätsgesetz die ganze Schöpfung durchzieht. Jedes Werden bedingt ein Vergehen, jedes Leben fordert einen Tod, jede Bewegung geschieht auf Kosten anderer. Ein end- und ruheloser Kampf ums Dasein, unter dem der mit Verstand und Gefühl so hochbegabte Mensch unendlich mehr leidet als die unscheinbaren Lebewesen, deren der Mensch hunderte mit einer Bewegung vernichtet. Seit Jahrtausenden war alle menschliche Kulturarbeit darauf gerichtet, das natürliche, aber brutale Recht des Stärkeren zu bannen und durch eine befreiende Weltordnung zu ersetzen. Heute, am Ende so langer und großer Mühen erscheint uns unser Geschick unentrinnbar, unvermeidlich. Statt Ruhe, Friede, Harmonie ein endloser Kampf, Zerstörung, Mißklang, soweit überhaupt Leben und Bewegung reicht.

Was nun die Seele des modernen Menschen bewußt oder unbewußt ersehnt, das erfüllt sich dem einsam Schauenden auf jener Bergeshöhe. Es ist nicht der Friede des Kirchhofs, der ihn umgibt, tausendfältiges Leben sieht er ja sprießen; aber was in der Nähe erbarmungsloser Kampf, erscheint ihm aus der Ferne friedliches Nebeneinander, Eintracht, Harmonie. So fühlt er sich erlöst und erleichtert von dem bangen Drucke, der von ihm keinen Tag seines gemeinen Lebens weicht. Er ahnt, daß weit über den Gegensätzen, die ihm seine unvollkommenen Sinne in der Nähe vortäuschen, ein Unfaßbares, eine Weltseele alle Dinge durchzieht und sie zu vollkommenem Einklange vereinigt. Diese Ahnung aber der Ordnung und Gesetzlichkeit über dem Chaos, der Harmonie über den Dissonanzen, der Ruhe über den Bewegungen nennen wir die Stimmung. Ihre Elemente sind Ruhe und Fernsicht.

Aus meinem andächtigen Schauen wurde ich durch ein Geräusch gestört. Eine Gemse ist in der Nähe aufgesprungen und eilt mit heftigen Sätzen hinweg über benachbarte Hänge. Mit einem Rucke ist meine ganze Aufmerksamkeit von der friedlichen Landschaft ab- und der Gemse zugewendet. Unwillkürlich zuckt die Rechte, wie nach der Flinte, es meldet sich das Raubtier, das das schwächere als Beute in den Bereich seiner Tastorgane bringen möchte. Allerdings erweist sich der Bergstock - meine einzige mitgebrachte Waffe - dazu ungenügend; aber der Blick verfolgt mit gierigem Wohlgefallen die Bewegungen des Tieres, bis es hinter einer Felsecke verschwindet. Und nun? die schöne Stimmung ist hinweg, verscheucht, verschwunden. Ein so subtiles Ding ist diese Stimmung, daß eine Lebensregung in der Nähe genügt, um sie hinwegzublasen. Ein einziger Vogelschrei in der Luft kann dieselbe Wirkung haben; desgleichen ein scharfer Windhauch, der mich frösteln macht und meinen Mantel fester schließen heißt, ein kräftigerer Sonnenstrahl, der meinen Nacken brennt: nicht organische Lebewesen also, aber auch sie Bewegungen, die Bewegungen herausfordern. Es ist die Gegenprobe auf jene Elemente - Ruhe und Fernsicht-, aus denen die Stimmung hervorgeht: Bewegung und Nahsicht haben mich in den Kampf ums Dasein zurückgeschleudert.

Die erlösende Stimmung erblüht uns aber nicht bloß auf überragenden Alpenhöhen, die die moderne Menschheit so gerne aufsucht, zum bezeichnenden Unterschiede von unseren antiken und mittelalterlichen Vorfahren, die den Kampf in den Tälern suchten. Auch dort wo das Niveau der trockenen Erdkruste am tiefsten - am Meeresstrande -, kann uns die Stimmung nahen, wenn Ruhe und Fernsicht sie hervorlocken. Am liebsten in stillen Buchten, an deren Uferkieseln die Wellen leise lecken, ein Kahn halb am Trocknen rastend liegt, die Sonnenstrahlen durch die Zweige der Uferbäume hindurch tausendfältiges blinkendes Leben auf das Wasser zeichnen. Aber selbst auf offenem Strande stellt sich die Stimmung ein, wenn wir über die von unaufhörlicher Kraft heranbewegten und immer wieder ohnmächtig und fruchtlos zurückweichenden Brandungswellen - das klare Spiegelbild des Weltgetriebes in der Nahsicht - hinweg den Blick auf die weite Fläche dahinter zu richten vermögen, die ein heller Sonnenschimmer verklärt, ein farbiges Band am Horizonte besäumt, während darüber der Rauchstreif eines unsichtbar dahinziehenden Dampfers verrät, daß auch inmitten der ungeheuren Elementenwüste menschliche Geschäftigkeit nicht stillesteht.

Und so gibt es kein Ding in der Schöpfung, von dessen Erscheinung die Stimmung unbedingt ausgeschlossen wäre. Es handelt sich hierbei überhaupt nicht um das Motiv, denn sogar der größte Feind der Stimmung – der Mensch - kann sie uns vermitteln: notwendig sind nur Ruhe und Fernsicht.

Was die Natur dem Menschen bloß in seltenen Augenblicken gönnt, soll ihm die Kunst auf jeden Wunsch hin herzaubern. Soweit die bildende Kunst des Menschen über Gebrauchs- und Schmückungszwecke hinausgeht, was wir auch als ,,höhere" Kunst zu bezeichnen pflegen, hat sie von allem Anbeginn im letzten Grunde niemals eine andere Bestimmung gehabt, als dem Menschen die tröstliche Gewißheit von der Existenz jener Ordnung und Harmonie zu verschaffen, die er in der Enge des Weltgetriebes vermißt und nach der er sich unablässig sehnt, ohne die ihm das Leben unerträglich scheinen würde. Nur hat der Mensch in früheren Zeiten die Harmonie woanders gesucht als heute und daher ist auch das oberste Ziel der bildenden Kunst früherer Zeiten ein anderes gewesen als die Erweckung der Stimmung. Es wechselte so oft als die Weltanschauung der Menschheit (das heißt des jeweilig kulturführenden Teiles derselben), und solcher Wechsel haben wir bis jetzt drei zu verzeichnen. Versuchen wir es, uns ihre Rückwirkung auf das Harmoniebedürfnis der Menschheit in großen, kurzen Zügen zu vergegenwärtigen.

Das älteste, primitive Stadium ist dasjenige des Kampfes aller gegen alle. Der Mensch baut nur auf seine persönliche physische Stärke; aber er nimmt wahr, daß es unfaßbare Naturkräfte gibt, denen seine Stärke nicht gewachsen ist. Dies bereitet ihm Unbehagen. Er schafft sich nun einen sichtbaren Träger jener feindlichen Kräfte -den Fetisch - und zollt ihm Verehrung. Damit glaubt er sich gesichert und sein Unbehagen weicht der Harmonie. Der Fetisch aber bezeichnet zugleich den Anfang der Religion und aller höheren Kunst.

Das zweite Stadium wird ausgezeichnet durch das Recht des Stärkeren. Es ist nicht mehr Kampf aller gegen alle, sondern eine Anzahl Schwächerer unterwirft sich einem physisch Stärkeren. So dünkt es der damaligen Menschheit natürliche Ordnung der Dinge in der Welt. Dieses Stadium umfaßt das ganze Altertum. Der Prozeß endet naturgemäß mit dem Siege eines Stärksten über alle anderen, und das war der römische Imperator. Damit war das Ideal des Altertums erreicht. Es räsonierte folgendermaßen: der Kampf ist wohl Disharmonie, diese endigt aber in dem Augenblicke, da der Stärkere obsiegt. Die Kunst des Altertums feiert daher das physisch Starke, Siegreiche, Bedeutende, Lebensvoll-Bewegte, körperlich Schöne. Die Götter, deren nun immer weniger werden, sind stark und schön. Daher sind sie vor allem menschenähnlich, denn etwas Stärkeres und Schöneres gibt es nicht unter den organischen Naturwesen als den Menschen. Die menschliche Figur als solche spielt daher die Hauptrolle in der antiken Kunst. Weil aber die menschenähnlichen Götter stark und schön sind, so verleihen sie auch dem starken und schönen Menschen den Sieg. An diesem Sieg partizipiert selbst der Schwache, der sich dem Starken vertrauensvoll untergeordnet hat.

Dieses naive Gottesvertrauen liegt, wie gesagt, der Kunst und Kultur des ganzen Altertums zugrunde. Die Harmonie, die es sucht, liegt ausschließlich in der physischen Superiorität. Wie es aber neben dem materiellen Körper einen Geist gibt, so gibt es neben der physischen Stärke und Gewalt auch eine sittliche Stärke und Gewalt. Das ist ein Faktor, der nun allmählich in die menschliche Kultur eintritt und ihre weiteren Schicksale bestimmt. Für die Altägypter hatte die sittliche Gewalt offenbar noch gar keine Geltung; in ihrer Kunst begegnen wir keiner Spur eines sittlichen Ausdruckes. Die voralexandrinischen Griechen sehen wir bereits darauf eingehen; aber ihre Götter schauen indifferent und die Affekte, die ihre Kunst sonst zur Darstellung bringt, sind die allerelementarsten, wie Freude und Trauer. Weit größer war bereits die B erücksichtigung des Geistigen in der Kunst des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit: hier begegnen einerseits elementare Ausbrüche des momentanen Affekts, wie im Laokoon, anderseits sogar idyllische Vorwürfe, in denen wir direkte Vorläufer unserer modernen Stimmungskunst erkennen dürfen. Um letzteres zu erklären, müssen wir uns erinnern, daß der Beginn der römischen Kaiserzeit mit Christi Geburt zusammenfällt. Das Aufkommen des Christentums aber ist im Lichte solcher kulturhistorischer Betrachtung nichts anderes als der Ausdruck des inzwischen erwachten Unbehagens der antiken Menschheit über die erkannte Unzulänglichkeit des heidnischen Götterglaubens. Immer dringender wurde der Wunsch nach einer sittlichen Weltordnung. Nicht der physisch Starke sollte dem Menschen fortan die Gewähr ruhigen Genusses der Lebensgüter gewährleisten, sondern der geistig, sittlich Starke. Diese von allen ersehnte, vom römischen Staat aber notwendigermaßen lange Zeit als seine Existenz bedrohend bekämpfte Weltanschauung verkündete Jesus Christus.

Vom Siege des Christentums datiert das dritte Stadium: das christlich-mittelalterliche. Noch immer ist es das Gottvertrauen, worin man die Harmonie in den Wirrsalen des Lebens, den sicheren Schutz vor den feindlichen - physischen oder geistigen - Gewalten sucht. Aber den Schutz gewährleistet nicht mehr eine Vielzahl physisch starker Götter, sondern ein einziger, sittlich starker Gott ohne alles physische Wesen, reiner Geist. Die christliche Kunst wird nicht müde, die geistigen Eigenschaften Gottes, die sittlichen Vorzüge der Heiligen zu verherrlichen. Dabei werden nicht nur die Heiligen, sondern auch die drei göttlichen Personen, trotz des rein geistigen Wesens Gottes, in die Gestalt organischer Naturwesen, und zwar hauptsächlich in menschliche Gestalt gekleidet: ein innerer Widerspruch, der die Untrennbarkeit von Geist und Leib und damit die praktische Unzulänglichkeit der ausschließjich auf der Sittlichkeit aufgebauten christlichen Weltanschauung von Anbeginn verrät. Wie in der Antike bleibt also auch noch im Mittelalter die menschliche Figur Hauptgegenstand der Kunst. Aber da es sich nun nicht mehr um Verkörperung physischer Schönheit, sondern um diejenige geistiger Vollkommenheit handelt, wird am menschlichen Körper nunmehr überwiegend nur derjenige Teil eingehender und liebevoller behandelt, in dem sich besonders deutlich die inneren, seelischen Regungen nach außen kundgeben: das ist das Antlitz. Unter den bisher skizzierten drei Weltanschauungen, die sämtlich die Herstellung der Harmonie von einem sozusagen persönlichen Eingreifen einer unfehlbaren höheren Gewalt erwarten, die also allein und ausschließlich auf das Gottvertrauen begründet sind, ist zweifellos die christliche die vollkommenste und den Menschen befriedigendste, weil sie den Schutz des sittlichen Menschen durch eine sittliche Gewalt verbürgt. Alles hängt aber dabei vom Glauben ab. Solange ich das unbedingte Vertrauen habe, daß Gott mich als einen gerechten Menschen vor dem Blitzschlag schützen wird, schafft mir die christliche Weltanschauung vollkommene Harmonie. Dies ändert sich aber, sobald ich einen Blitzableiter auf meinem Hause aufrichte: denn jetzt vertraue ich mehr meinem Wissen, das mich von jener Vorrichtung den begehrten Schutz sicher erwarten läßt, als meinem Glauben, der mir den Blitzableiter entbehrlich erscheinen lassen müßte. Damit ist gesagt, daß mir der Glaube allein wenigstens in irdischen, materiellen Dingen die volle Harmonie nicht mehr gewährleistet. Die christliche Weltanschauung erscheint hiermit gerade in demjenigen Teile, der für die bildende Kunst von entscheidender Bedeutung ist - in der Auffassung des Naturgesetzes - verlassen und überwunden. Es kann nur das Wissen sein, von dem ich fortan die Harmonie zu erwarten habe.

Damit eröffnet sich das vierte Stadium: man wird es vielleicht am besten als dasjenige der naturwissenschaftlichen Weltanschauung bezeichnen können. In Analogie zur polytheistischen und monotheistischen Weltanschauung könnte man sie auch die pantheistische nennen, doch wäre es gefehlt, darin einen prinzipiellen Gegensatz zur monotheistischen Anschauung zu erblicken, was durchaus nicht zutrifft, weil in der Tat heute in der Mehrzahl der gebildeten Europäer beide Anschauungen Hand in Hand gehen. Die naturwissenschaftliche Weltanschauung basiert wohl auf der Emanzipierung des Wissens vom Glauben, nicht aber auf der Eliminierung des Glaubens; denn so viel sehen wir heute wenigstens, daß uns kein Wissen über die letzten Ursachen des Daseins aufklären kann, und das Bedürfnis nach Harmonie zwingt uns daher allein schon, die Aufklärung über die letzten Ursachen und Wirkungen vom Offenbarungsglauben hinzunehmen. Aber hinsichtlich der Kausalitätsverhältnisse aller Naturerscheinungen - der physischen und neuerdings auch der geistigen - untereinander erwarten wir, einige strenggläubige Seelen ausgenommen, alle Aufklärung ausschließlich vom Wissen. Die Erkenntnisse des Wissens sind uns häufig peinlich; oft überkommt uns der Gedanke, daß strenggläubige Geschlechter im allgemeinen glücklicher gewesen sein möchten als wir, und der Pessimismus ist nicht zufällig eine Sondererscheinung unseres modernen Geisteslebens. Aber dasselbe Wissen schafft uns auch die erlösende Harmonie, indem es uns über der Enge der widerstreitenden Einzelerscheinungen eine ganze Kette derselben gleichsam aus der Ferne überschauen läßt. Je mehr Erscheinungen wir so mit einem Blicke umfassen, desto gewisser, befreiender, erhebender wird uns die Überzeugung von einer Ordnung, die alles harmonisch zum Besten ausgleicht. Auf dieser durch das Wissen zugleich provozierten und dargebotenen Harmonie beruht im wesentlichen die moderne Kunst, die Stimmungskunst.

Wie unser modernes Wissen die Naturerscheinungen nicht mehr in ihrer Vereinzelung betrachtet, wie es die heidnische Antike und das christliche Mittelalter getan hat - als individuelle Äußerungen einer persönlichen Gottheit -, sondern im kausalen Zusammenhange mit ihrer näheren und entfernteren Umgebung: ebenso verfährt die moderne Kunst in der Aufnahme jener Natureindrücke, über die sie nicht hinaus kann, die sie aber mit ihren eigenartigen Mitteln wiederschafft. So begreift sich vor allem, daß das moderne Stimmungsbedürfnis voll und unmittelbar nur durch die auf rein optischer Aufnahme beruhende und daher von Haus aus fernsichtige Malerei gestillt und befriedigt werden kann. Jene andere Gattung der ,,höheren" Kunst hingegen, die das klassische Altertum beherrscht hatte - die den Tastsinn herausfordernde und darum unvermeidlichermaßen nahsichtige Plastik - verdankt ihre fortdauernde Pflege heutzutage wesentlich nur der Beharrungstendenz einer Kulturüberlieferung und dekorativen Bedürfnissen. Was verlangen wir aber vom Gemälde, das ist der zweidimensionalen Bilddarstellung im weitesten Sinne des Wortes? Weder Proportions- und Linienschönheit, wie das klassische Altertum, noch geistige Erhebung, wie das christliche Mittelalter: hingegen unter allen Umständen Lebenswahrheit. Die strikte Beobachtung des Kausalitätsgesetzes bildet den Kernpunkt der modernen Ästhetik der bildenden Künste und insbesondere der Malerei. Man darf uns das Ungewöhnlichste zumuten: selbst rote Bäume oder grüne Pferde, sofern nur die Reflexbeleuchtung daran zwingend motiviert erscheint. Was wir uns aber vom Künstler niemals gefallen lassen, das ist das nackteWunder, das heißt nicht etwa die aus der Phantasie geborene Dichtung, sondern die ernsthaft vorgetragene Außerkraftsetzung des aus der Erfahrung geschöpften Kausalitätsgesetzes durch ,,übernatürliche" persönliche Kräfte.

Die Stimmung als Ziel aller modernen Malerei ist also im letzten Grunde nichts anderes als die beruhigende Überzeugung vom unverrückbaren Walten des Kausalitätsgesetzes. An einzelnen konkreten Beispielen läßt sich das schwer evident machen, denn das Grundgesetz erscheint an den einzelnen Bildern bei nahsichtiger Betrachtung stets von trübenden Zufälligkeiten überwuchert und erschließt sich in begehrter Klarheit erst demjenigen, der eine ganze Gruppe solcher Einzelerscheinungen aus der Ferne überblickt. Vor dem einzelnen Bilde wird es mehr geahnt und gefühlt als klar geschaut. So wollen auch die diesem Aufsatze beigefügten Abbildungen nicht irgendwie erschöpfend den Charakter der modernen Stimmungsmalerei illustrieren, sondern sie sind bloß als Proben aufs Geratewohl gemeint, wie sie sich eben in der Redaktions-Mappe vorfanden. Mehr Erfolg dürfte man sich vielleicht von einer Zusammenstellung von Einzelbeobachtungen versprechen, die sich dem Beschauer moderner Bilder besonders häufig aufdrängen. An dieser Stelle müssen wir es uns mit einigen Beispielen genügen lassen.

Am unmittelbarsten offenbart sich das Wesen der Stimmung in den Schöpfungen von Meistern wie Max Liebermann oder Storm van s'Gravesande, die einen Ausschnitt aus ihrer Umgebung mit allen optisch wahrnehmbaren Zufälligkeiten in Umriß und Bewegung, Licht und Farbe wiedergeben. Diese Zufälligkeiten sind dem Maler aber Notwendigkeiten, denn gerade in ihnen gelangt das Walten des die Naturdinge durchdringenden und verbindenden Kausalgesetzes zum Ausdruck. Die größte Schwierigkeit bereitet hier die Darstellung der Ortsveränderung; eine in der Bewegung des Ausschreitens dargestellte menschliche Figur zum Beispiel verstößt gegen das Kausalgesetz, das eine unmittelbare Fortsetzung der Bewegung erfordern würde, was der gemalten Figur natürlich unmöglich ist. Die impressionistischen Meister helfen sich in solchem Falle gerne dadurch, daß sie ihren Figuren keine einfachen und festen, sondern mehrfache und gleichsam bewegliche Umrisse verleihen. Im allgemeinen aber ist das Ziel der modernen Malerei nicht so sehr die Darstellung der Bewegung als der Bewegungsfähigkeit: die Figuren sollen aller organischen Lebensäußerungen fähig erscheinen, ohne dieselben unmittelbar zu äußern. Diese Auffassung muß sich begreiflichermaßen überaus fruchtbar für die Darstellung der pflanzlichen und der anorganischen Natur (Fels, Wasser, Wolken) erweisen, deren Bewegungen nicht aus freiem Willen, sondern auf Grund physikalischer Gesetze erfolgen. Daraus erklärt sich, daß die Landschaft in der modernen Kunst den vornehmsten Rang einnimmt.

Aber das Recht auf freie Dichtung läßt sich auch der moderne Künstler nicht verkümmern. So schafft Böcklin seine Meernixen und Thoma seine Satyren nicht als ,,Ausschnitte aus der Natur", wohl aber als Phantasiegeburten, deren Verständnis in unserer Neigung für Naturpoesie begründet ist. An eine reale Existenz solcher Mischarten will uns der Künstler nicht glauben machen, aber wohl uns dahin überzeugen, daß dieselben, wenn sie existierten, so und nicht anders aussehen und sich gehaben müßten. Auch sie müssen nun dem Kausalitätsgesetze folgen, für das die Urväter der antik-heidnischen Mythologie, die alten Ägypter, schwerlich eine Handvoll Datteln gegeben hätten. Und das gleiche gilt endlich von jenen Werken, in denen die geistigen Lebensäußerungen der Gattung Mensch das Problem bilden. Die wesentliche Rolle, die darin in der Regel der Landschaft zugeteilt erscheint (Max Klinger), weist allein schon mit Entschiedenheit nach der vorbezeichneten Richtung.

Ist diese Stimmungskunst aber wirklich erst eine Frucht der modernsten Zeit, das heißt unserer Tage? Müssen ihre Anfänge nicht mindestens ebensoweit zurückreichen als die Trennung von Glauben und Wissen? In der Tat liegt die Stimmung als letztes Ziel im allgemeinen bereits der ganzen neueren Kunst seit dem Ausgange der Renaissance zugrunde. Ja sogar bis in die hellenistische Zeit haben wir einzelne ihrer Vorläufer zurückverfolgen können: das heißt in eine Zeit, da dem Heidentum das vormalige gläubige Vertrauen in seine schöne und starke Götterwelt abhanden zu kommen begann und dafür die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften ihre erste große Blüteperiode erlebte. Aber an Stelle des kategorischen heidnischen Gottvertrauens war damals bald darauf das nicht minder kategorische christliche getreten, und die Naturwissenschaften, deren Pflege in der nachalexandrinischen Antike einen so glänzenden Aufschwung genommen hatte, wurden wieder für ein Jahrtausend so gut wie überflüssig. Erst am Ausgange des Mittelalters begann das Wissen von der Natur neuerdings das menschliche Geistesleben vorwiegend zu beschäftigen und seine Trennung vom Glauben war nun nicht mehr aufzuhalten. Nur verlief der weitere Prozeß in ungleichem Tempo und keineswegs stetig, sondern unter wiederholten Rückschlägen. Es ist vor allem selbstverständlich, daß er in protestantischen Ländern, wo die Reformation jene Trennung wenigstens hinsichtlich der physischen Natur sofort zugestanden hatte, rascher verlief als in katholischen Ländern, wo die Kirche bekanntlich bis zum heutigen Tage die Trennung von Glauben und Wissen prinzipiell verwirft. Das erstemal begegnen wir bei den Holländern des 17. Jahrhunderts einer Malerei, die ausschließlich auf Ruhe und Fernsicht zugleich begründet ist. Und sofort sehen wir eine andere Eigentümlichkeit der modernen Kunst in Erscheinung treten: nicht mehr der Mensch steht im Mittelpunkte des Kunstschaffens sondern die ganze Breite der Natur, in deren Mitte sich der Künstler bewegt. Der Mensch ist nicht mehr der Herrscher wie in der Antike und selbst noch im Mittelalter, sondern nur ein Glied in einer unendlichen Kette. Der nivellierende soziale Zug gelangt damit zum Ausdrucke, für den das Christentum die ersten Voraussetzungen geschaffen hatte und der unserer heutigen Kultur in ganz entscheidendem Maße Charakter und Richtung gibt. Dicht neben den Holländern blühte aber zur selben Zeit eine katholische Kunst: diejenige des Rubens. Sie war voll Leben und Bewegung, aber sie nahm auch zugleich einen entschiedenen Zug zur Fernsicht, die das Heftige, Gewaltsame der Bewegungen abschleift und verwischt und ihnen damit das Unharmonische benimmt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war die Trennung von Glauben und Wissen endlich selbst in den katholisch gebliebenen Ländern wenn auch nicht prinzipiell zugestanden, so doch tatsächlich vollzogen. Nun stand auch hier dem vollen Durchbruche der Stimmungskunst nichts mehr im Wege. Der Mensch fand es aber seit jeher unökonomisch Neues zu suchen, solange sich ihm ein brauchbares Altes darbot: das lehrt uns nicht bloß die Renaissance, die bei der Antike unbedenklich Anleihen machte, sondern bereits die klassische Antike, die ebenso skrupellos aus altorientalischen Motiven geschöpft hat. Und so begann der Kreislauf der Repetition der verflossenen historisch gewordenen Stile von der voralexandrinischen Antike an, nicht etwa um ihrer selbst willen oder aus blinder Ratlosigkeit, sondern mit der mehr oder minder bewußten Absicht, aus dem vorhandenen Vorrat an Kunstdenkmälern früherer Jahrhunderte alles dasjenige heranzuziehen, was dem mehr oder minder klar empfundenen Stimmungsbedürfnisse entsprechend scheinen konnte. Dies ist der Gesichtspunkt, unter dessen Leitung einmal die Geschichte des abgelaufenen Jahrhunderts europäischer Kunst geschrieben werden muß. Denn es ist nicht zufällig, daß es uns unter den Antiken gerade die attischen mit ihrer olympischen Ruhe angetan haben und nicht etwa der Laokoon, den noch Bernini als das vollkommenste Skulpturwerk gepriesen hat; nicht zufällig, daß uns wohl die venezianische Existenzmalerei, nicht aber die aufgebauschte Manier der immer noch zur antiken Nahsicht neigenden römischen Barockmeister sympathisch erschienen ist; nicht zufällig, daß wir uns zwar den ruhig abgeklärten Velasquez, den einzigen weltlichen Maler jenes Habsburgers auf dem spanischen Königsthrone, nicht aber seine brünstig verzückten Landsleute zum Vorbild genommen haben.

Stimmung und Andacht wohnen enge beieinander. Ist doch Andacht nichts anderes als religiöse Stimmung. Es ist daher tief begründet, daß, soweit wir die Kulturgeschichte der Menschheit klar zu überblicken vermögen, die Stimmung immer in solchen Perioden zum obersten Kunstziele geworden ist, die zugleich durch eine tiefe religiöse Erregung gekennzeichnet sind. Zum ersten Male in der späten Antike, als der heidnische Götterglaube ins Wanken gekommen war und das Auftreten Jesu Christi sich vorbereitete. Zum zweiten Male in der neueren Zeit, infolge jener ungeheuren Bewegung der Geister, die wir als Reformation und Gegenreformation bezeichnen. Heute endlich sehen wir jenen Parallelismus zum dritten Male wiederkehren. Denn niemand kann zweifeln, daß wir in einer geistig tief erregten Zeit leben. Hat doch selbst der Katholizismus sich verjüngt und neuerdings eine werbende Kraft entfaltet, die viele noch vor 60 Jahren nicht mehr für möglich gehalten hätten. Aber die große Mehrzahl der Geister vermag sich heute auch hinsichtlich der sittlichen Weltordnung, wie es schon längst hinsichtlich der physischen geschehen ist, bei dem gläubigen Vertrauen ins Übersinnliche nicht mehr zu beruhigen. Sie erwartet auch hier Aufklärung von den zahlreichen neuaufgeschossenen Disziplinen, die sich mit der geistigen Seite der menschlichen Natur beschäftigen: Psychophysik, Ethnologie, Sozialwissenschaft usw. Die Kunst aber steht ihr hierbei treulich zur Seite: wie zu allen Zeiten hilft sie auch jetzt der Seele jene Erlösung, Befreiung schaffen, der sie unbedingt bedarf, wenn sie den Willen zum Leben nicht verneinen soll. So sind es unsere Künstler, die den letzten, höchsten, entscheidenden Gewinn aus dem modernen Wissen ziehen und damit dem trostbedürftigen Zeitgeschlechte Erleichterung, wo nicht Erlösung bringen.

 

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