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Sigrid Meyer zu Knolle (1998)
Die Malerschule von Barbizon. Oder: Die Wiederentdeckung der Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert
Die Malerschule von Barbizon ist benannt nach einem kleinen Dorf im Wald von Fontainebleau. Dort trafen sich immer wieder Maler zum Skizzieren, Malen und Lernen. Manche richteten sich
ein Atelier ein oder zogen sogar hierher. Die Malerschule von Barbizon war keine staatlich eingerichtete Akademie, sondern ein freies und freundschaftliches Verhältnis von Malern, die sich in ihrem Anliegen relativ
einig waren. Sie hatten untereinander und zu anderen Malern ein sehr produktives Lehrer-Schüler-Verhältnis. Sie reisten und saßen zusammen vor den Motiven ihrer Bilder. Ihr Anliegen war die Erneuerung der
Landschaftsmalerei, ein Kampf in der Malerei, der 1820 begann, gegen die Widerstände des Salons (jährliche, offizielle Kustausstellungen in Paris) geführt wurde, um dann letztlich den Geschmack des Publikums zu
gewinnen. Obwohl diesem Kreis von verschiedenen Wissenschaftlern noch einige andere Maler zugerechnet werden, sind seine hauptsächlichen Vertreter: Jean-Baptiste Camille Corot (1796-1875), Charles-Francois Daubigny
(1817-1878), Pierre-Etienne Théodore Rousseau (1812-1867), Jules Dupré (1811-1889), Charles-Emile Jacque (1813-1894), Constant Troyan (1810-1865), Narcisse Diaz de la Pena (1807-1876) und Jean-Francois Millet
(1814-1875).
- Das große Thema der "Schule von Barbizon" ist die Natur schlechthin und die Landschaft im besonderen. Die wirklichen Landschaften Frankreichs und Italiens werden für die
Maler dieser Schule zum Gegenstand der Ölmalerei.
- Ihre Landschaftsbilder sind nicht mehr nach einer Idee a priori, aus einer Skizze von hier und einer Skizze von dort, einer Fels- und Baumstudie zusammengesetzt, sondern sie sind
authentisch. Sie sind durch die Wirklichkeit kontrollierbar.
- Deshalb heißt ihr Künstlerprogramm: Male die Landschaften, die Du siehst. Aber mit Deiner Seele! Indem sie sich von der Natur beeindrucken lassen, die Jahreszeiten ebenso wie das
Wetter wahrnehmen und malen, verwandeln sie diese Natureindrücke in Stimmungsbilder, die fast immer von der Harmonie von Mensch und Natur erzählen.
- Zu den Konsequenzen dieses Künstlerprogramms gehört die Motivsuche der Maler vor Ort. Sie reisen in den Landschaften Frankreichs und über die Grenzen dieses Landes hinaus nach
Italien. Sie vollziehen den Übergang zur Plein-air-Malerei und erfinden ganz neue Kompositionen des Bildraumes.
Aber sind die Bilder dieser Schule die ganze Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts? Oder hat gar Friedrich Naumann recht, wenn er bei seinem Versuch, Stimmungskunst zu erklären, 1904 sagt:
"Der Großstadtmensch hat in sich eine tiefe Sehnsucht nach dem Naturleben seiner Ahnen, eine Art Heimweh nach Sonne und Buchenlaub, ein hoffnungsloses Heimweh, das
er bei seinen Künstlern wiederfinden will. Und ein ähnliches Heimweh hat er nach einer Zeit, wo noch nicht das ganze Leben auf glatten Schienen rollte, wo es noch Gefahren, Romantik, Räuber, Mord und tolle Liebe
gab. Das Geordnete und Regelmäßige, das Brave und Moralische, das man fordert und gar nicht mehr entbehren kann, die Entpersönlichung der Großbetriebsmenschen, die endlose Sachlichkeit der Hauptbücher und
Konferenzen, das tägliche Lavieren und Nivellieren, das Maschinenmäßige eines höchst kompliziert gewordenen Lebenszustandes läßt im dunklen Untergrund der Seelen einen Raum, der gar nicht elektrisch beleuchtet
sein will, der sich gar nicht regeln lassen will, den Raum der verlorenen Leidenschaften und Urgefühle. Aus diesem Raum steigen Seufzer, Gelächter, Heulen und Gekicher, wortlose und gedankenlose Laute
verworrendster Art auf, ein Chor der gewesenen Jahrtausende drunten in der Nacht der Einzelseele. Diesen Untergrund hat keine Aufklärungskanalisierung trockenlegen können, und gerade das Industriezeitalter hat
ihm etwas dumpfe Energie gegeben, indem es ihn unterdrücken wollte. Die Töne dieses Untergrundes sind es, die wir in unserer Musik und Lyrik oft selbst nicht verstehen. Es verbindet sich die Akuratesse im
Kleinen, von der wir erst sprachen, mit dem Gefühlsinhalt der unterdrückten Urseele und aus beiden zusammen entsteht: Stimmungskunst."1
Im 19. Jahrhundert ist Natur nicht mehr die große Unbekannte früherer Jahrhunderte, die Bedrohung gegen die man sich wappnen muß. Ihre Kräfte und Gesetze sind handhabbar
geworden, ihre Rohstoffe werden verarbeitet und ihre Landschaften werden umgestaltet. Sie ist zum Gegenstand einer Ökonomie geworden, deren Kennzeichen die umfassende Mechanisierung und Kapitalisierung der
Arbeits- und Lebensprozesse sind. Beides steht für eine neue viel umfassendere Benutzung der Natur als sie bis dahin üblich war, und die mit kaum einem Gedanken zur Nachhaltigkeit, aber im Namen eines neuen
Subjektes, des Marktes, stattfindet. Diese neue Qualität der Naturbenutzung verändert die Natur- und Landschaftsräume, die zugleich auch Lebensräume der Menschen sind.
Mit diesen Natur- und Landschaftsräumen vertraut, sind es die Maler von Barbizon, die diesen Umgang mit der Natur als beginnende Zerstörung wahrnehmen. Ihr Malerrevier
Fontainebleau, das ehemalige Jagdrevier der französichen Könige vor den Toren von Paris, wird aufgrund ihrer Proteste zu einem der ersten geschützten Naturräume in Europa.
Die selektive Wahrnehmung der Wirklichkeit in diesen Bildern wirft die Frage auf: Verstehen die Maler ihre Bildentwürfe als Gegenbild zur Wirklichkeit? Ist das Landleben
die noch nicht berührte aber gefährdete Idylle zur Stadt?
Die "Schule von Barbizon" ist ein Künstlerprogramm, das die scheinbar einfache Nachahmung der Natur proklamiert. Ihre Künstler wissen es besser und darum, daß
sie der Hilfe ihrer Vorgänger bedürfen, um sich im Bild ausdrücken zu können. Was haben ihre Bildentwürfe mit dem Schnee von John Constable oder gar mit den Ochsen von Paulus Potter zu tun?
1: Friedrich Naumann (1904): Die Kunst im Zeitalter der Maschine, S. 326 und 327.
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